Die Schweiz und die Shoa. Von Kontroversen zu neuen Fragen

Die Schweiz und die Shoa. Von Kontroversen zu neuen Fragen

Organisatoren
Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW); Zentrum für Demokratie Aarau; Professur der Didaktik der Gesellschaftswissenschaften und ihre Disziplinen der PH FHNW
Ort
Aarau
Land
Switzerland
Vom - Bis
22.01.2011 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Béatrice Ziegler / Claudia Schneider, Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz

Mit der Tagung «Die Schweiz und die Shoa» wurde der internationale Tag des Gedenkens an den Holocaust begangen, der aus Anlass der Ankunft der russischen Truppen in Auschwitz auf den 27. Januar festgesetzt worden war.

Der Anlass wurde als Tagung des Zentrums für Demokratie Aarau in der Villa Blumenhalde geplant, die als Wohn- und Arbeitsort des Politikers und ‹Volkserziehers› Heinrich Zschokke im Gedächtnis gehalten wird. Zschokkes Bemühen galt dem informierten und verantwortungsbewussten Bürger und der Förderung der Demokratie. Dass seit 2007 das Zentrum für Demokratie in dieses Gebäude eingezogen ist, hat deshalb hohen symbolischen Gehalt für die hier betriebene Forschung zur Demokratie und speziell zur Politischen und Historischen Bildung. Die Arbeit rund um die Figur des/r verantwortungsbewussten, aufgeklärten Bürgers, Bürgerin dieser Welt, die die demokratische Verfasstheit von Gesellschaften Wert schätzen, ist hier Programm.

Das Thema der Tagung orientierte sich entlang dreier Beobachtungsachsen der heutigen Identitätssuche von Schweizerinnen und Schweizern bzw. der Schweiz.

Zum einen fordert sie Erinnerungsgemeinschaften zur Befragung ihrer Selbstvergewisserungen und zur teilweise konsequenten Neubeleuchtung ihrer Erinnerungen bzw. zu einer schmerzhaften Neudefinition ihrer Identität(en) auf. Diese Herausforderung ist umso grundsätzlicher, als sie auf die historische Gleichzeitigkeit von Massenmord und Vernichtung (Shoa) und relativ friedlichem Alltag in der Schweiz zwischen 1933 und 1945 zurückgreift. Gerade dieser Gleichzeitigkeit hat sich demgegenüber die Geschichtswissenschaft als einer Forschungsfrage verstärkt zu stellen, hat sie sich doch bislang zuwenig um die historische Aufarbeitung des Alltags und der diskursiven Durchdringung der unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Milieus während dieser Jahre bemüht.

Des Weiteren verbindet sie sich mit der heutigen Identitätssuche und Handlungssicherheit einer Gesellschaft, die ihre weltweite Vernetztheit in einer globalisierten Welt nicht nur hinsichtlich Wirtschaft und Politik neu einordnen muss, sondern auch hinsichtlich eines globalisierten Denkens. Dieses beleuchtet und bewertet über die Orientierung am Völkerrecht und am Menschenrechtsdiskurs Gegenwart und auch Vergangenheit neu – und insbesondere aus der Perspektive der Opfer.

Schliesslich machen heutige Kontroversen und Kommunikationslosigkeiten bezüglich Erinnerung an die Zeit des Zweiten Weltkrieges deutlich, dass der zwischenzeitliche geschichtskulturelle und vor allem geschichtspolitische Umgang mit der belasteten Zeit deren heutige Verarbeitung zusätzlich erschweren. Sie werfen damit die Frage auf, in welchem Verhältnis die jeweilige Interpretation zu den dann aktuellen politischen Verhältnissen gestanden hat.

Aufgrund der Einsendungen von Papers für die Tagung konnte ein Programm zusammengestellt werden, das die genannten Beobachtungsachsen in Form dreier Workshops repräsentiert.

Der erste Workshop, moderiert von PETER GAUTSCHI (Aarau), galt empirischen Untersuchungen zu Befunden über das Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen im Hinblick auf die Shoa in Kombination mit weiteren Einstellungen und Haltungen (etwa zu Rassismus bzw. ethnisch grundiertem Nationalismus) sowie zur intergenerationellen Erinnerung in der schweizerischen Bevölkerung. Die Diskussion war geprägt von den Einsichten, dass Antisemitismen nach wie vor in der schweizerischen Bevölkerung feststellbar sind, dass der Schritt von der grundsätzlichen Verurteilung des Geschehens der Shoa zur Auseinandersetzung mit eigener historischer (staatlicher wie zivilgesellschaftlicher) Verantwortung nicht selbstverständlich ist (NICOLE BURGERMEISTER / NICOLE PETER, Zürich), dass die Übernahme von Verantwortung auch mit grundlegenden Überzeugungen hinsichtlich der Gerechtigkeit von Geschehen in der Welt korreliert (CARSTEN QUESEL, Aarau) und wie schwer vorhandene Einstellungen im schulischen Kontext veränderbar sind, ja getroffene Massnahmen unter Umständen gegenteilige Wirkungen erzeugen (MIRYAM ESER DAVOLIO, Basel).

Im zweiten Workshop, moderiert von BERNHARD SCHÄR (Aarau), wurden gruppenspezifische Erinnerungstraditionen thematisiert, wobei es sich im ersten Referat rund um ein wiederentdecktes Stück Volkstheater um eine verschüttete und nun wiederentdeckte Spur damaligen Geschehens und Wissens in der schweizerischen Bevölkerung und der Erinnerung daran handelt (BEAT HODLER, Aarau). In allen drei Referaten ging es (auch) um gruppenspezifische Erinnerungstraditionen. So thematisierten SUSANNE BUSINGER (Zürich) die geschlechtsspezifische Erinnerung am konkreten Beispiel der hilfeleistenden Frauen in südfranzösischen Lagern und ZSOLT KELLER (Basel) die Kluft zwischen Erinnerungen einerseits der schweizerischen jüdischen Gemeinschaft und andererseits der schweizerischen Öffentlichkeit, die am Beispiel der Einführung eines amtlichen Formulars zu Zwecken des «Ariernachweises» in den Kriegsjahren und dessen Weiterverwendung darüber hinaus beklemmende Anschaulichkeit gewann.

Im dritten Workshop, moderiert von BÉATRICE ZIEGLER (Aarau), der dem aktuellen Umgang und neuen Perspektiven in der Auseinandersetzung mit dem Thema galt, fokussierte JAN SURMANN (Erfurt) die «Crusade for Justice» der Clinton-Administration, in deren Verlauf die Stossrichtung von der materiellen Wiedergutmachung gegenüber Opfern auf das Einfordern einer jeweils nationalen Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung gegenüber dem Handeln im Kontext der Shoa wechselte, und zeigte, wie im Verlauf dieses ‹Kreuzzuges› die Schweiz in den Blickpunkt geriet. Demgegenüber zeigte PATRICK KURY (Bern), dass im Verlauf der Auseinandersetzung mit der Shoa und dem Umgang mit derselben psychotraumatologische Konzepte wirkungsmächtig wurden und den heutigen Umgang mit Wiedergutmachung vergangenen Unrechts nicht geringfügig beeinflussen. Beide Referenten wiesen damit über die bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung, geschweige denn über die öffentliche Diskussion in der Schweiz zur Thematik hinaus.

Darauf wies auch THOMAS MAISSEN (Heidelberg) hin, der die Tagung mit einem Rückblick abschloss. Er betonte in seinen Schlussfolgerungen, dass bei der Auseinandersetzung mit Vorstellungen in der Bevölkerung oftmals ein normativer Zugang die gesellschaftliche Verständigung behindere und allfällige Verflüssigungen von stereotypen Rassismen sowie der Rückweisung der Relevanz der Opferperspektive für die schweizerische Gesellschaft unmöglich mache. Es gelte zu verstehen, welche Identitätsgewinne Leute aus solchen gedanklichen Konstrukten ziehen, um dann dienliche alternative Konzepte entwickeln zu können.

Konferenzübersicht:

Béatrice Ziegler: Eröffnung

1. Workshop

Miryam Eser Davolio: Holocaust und politische Bildung – Überlegungen zu einem komplexen Zusammenspiel.

Carsten Quesel: Der Zweite Weltkrieg und die Moral der Geschichte. Aspekte des Geschichtsbewusstseins von Schweizer Jugendlichen.

Nicole Burgermeister, Nicole Peter: Holocaust-Erinnerung in der schweizerischen Bevölkerung.

2. Workshop

Beat Hodler: Volkstheater als Medium der Kritik an der Flüchtlingspolitik?

Susanne Businger: «Unbesungene Heldinnen»? Hilfe für Verfolgte zur Zeit des Nationalsozialismus in der Schweiz und geschlechtsspezifische Erinnerungsdebatten nach 1945.

Zsolt Keller: Zwei Bilder, eine Realität oder: eine Realität in zwei Bildern – Jüdische Gemeinschaft und Öffentlichkeit in der Schweiz am Ende des Zweiten Weltkrieges.

3. Workshop:

Jan Surmann: Die Schweiz im Zentrum des US-amerikanischen «Crusade for Justice»

Patrick Kury: Erinnerungskultur und Psychotraumatologie: Der Wandel im Umgang mit NS-Verfolgten in der Schweiz zwischen 1960 und 2000.

Thomas Maissen: Rückblick und Ausblick: Die Schweiz und der Holocaust.


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